„Lieber nur ein Bein, als tot“
Wie Alex Böhmer sein Bein verlor, aber seinen Lebensmut behielt
Es raschelt im Hintergrund. Die Stimme einer Frau ist zu hören. „Mama, kannst du bitte rausgehen, damit ich in Ruhe telefonieren kann? Ich bin ja schließlich derjenige mit nur einem Bein“, hört man Alex Böhmer zu seiner Mutter sagen. Er lacht dabei.
Alex ist 22 Jahre alt und von Beruf Flugbegleiter. In seiner Stimme ist die Freude herauszuhören, wenn er über seine Arbeit spricht. Derzeit kann er noch nicht wieder in seinen Beruf einsteigen. „Aber wenn Corona erstmal vorbei ist, gibt es für mich kein Halten mehr“, sprudelt es aus ihm heraus.
Im August 2018 erkrankte Alex an einem Osteosarkom, einem bösartigen Knochentumor. „Damit rechnet man einfach nicht, schon gar nicht in meinem Alter“, erinnert er sich zurück. Der Tumor im rechten Bein wurde entfernt. Jedoch bildeten sich aggressive Keime. Die Gefahr einer Sepsis war hoch. Die notwendige Chemotherapie musste aufgrund der Keime ausgesetzt werden und die Ärzte rieten zur Amputation. „Was bringt einem ein Bein, wenn man am Ende tot ist?“, überlegt Alex. Das rechte Bein wurde oberhalb des Knies amputiert. Aufgrund der Phantomschmerzen bekam er Tabletten gegen Nervenschmerzen, die nur bedingt halfen. „Erst CBD-Öl hat bei mir dann zu einer anhaltenden Besserung geführt“, berichtet er.
Es gibt unterschiedliche Prothesen: Alltagsprothesen, Sportprothesen, Prothesen für verschieden aktive Menschen oder Menschen mit unterschiedlichem Körpergewicht. „Meine Prothese ist wasserdicht. Das war mir wichtig“, berichtet Alex und erzählt, dass dies zum Wiedereinstieg in seinen Beruf auch erforderlich gewesen ist. Genius X3 nennt sich seine Prothese. Gerne hätte er auch eine Sportprothese, jedoch übernimmt die Krankenkasse hierfür nicht die Kosten.
Zweimal wöchentlich geht Alex Böhmer zur Physiotherapie. Die Praxis in Bonn hat sich auf Menschen mit Amputationen spezialisiert. Er erhält dort ein Gangtraining, lernt, das Gewicht gleichmäßig zu verteilen, Hindernisse zu umlaufen oder sogar Wasserkisten hin- und herzutragen. Sein Ehrgeiz hilft ihm dabei, kontinuierlich und mit Fleiß zu trainieren. „Es gibt immer eine Steigerung und es ist toll, die Fortschritte zu merken.“ Im Sommer will er mit seiner Physiotherapeutin Stand-up-Paddeln probieren. Hierbei wird auch die Rumpfstabilität trainiert.
„Manchmal sind die Menschen erstaunt, wenn ich neben ihnen die Treppe hochgehe und dann erwähne, dass ich nur noch ein Bein habe“, erzählt er nicht ohne Stolz. Wenn er Hosen trägt, fällt sein Handicap kaum auf. Im Sommer versteckt er seine Prothese jedoch nicht. „In kurzen Hosen gibt es keine Reibung an der Prothese, deswegen würde ich auch im Winter am liebsten so rumlaufen“, erzählt er. Je weniger Reibung, desto freier kann die Prothese schwingen und das Laufen wird flüssiger. Zudem nehmen die Menschen mehr Rücksicht, wenn sie seine Prothese sehen können.
Die Reaktionen des Umfelds sind größtenteils positiv. Insbesondere Kinder begegnen ihm mit Neugier. „Ich war im Zoo und ein Kind kam auf mich zu“, fängt Alex Böhmer schon halb lachend die Geschichte an. „Das Kind fragte mich, was mit meinem Bein los wäre. Ich sagte, ich hätte es durch eine Krankheit verloren. Das Kind entgegnete daraufhin: Soll ich dir suchen helfen?“
Negative Begegnungen seien selten. Einmal ging Alex mit seinen Freunden, die er über seine Erkrankung kennengelernt hatte und die ebenfalls sichtbare Amputationen besaßen, spazieren. Ein älteres Ehepaar streifte ihren Weg. „Ekelhaft, dass die sich überhaupt raustrauen“, hörten sie die Frau zu ihrem Mann sagen. „Dann hoffen wir mal, dass ihre Kinder immer gesund bleiben“, entgegnete Alex’ Bekannte perplex. Er selbst fand keine Worte. „In solchen Situationen ist man einfach zu überrascht, um überhaupt reagieren zu können.“
Unterstützung fand Alex Böhmer insbesondere bei seiner Mutter: „Sie war immer dabei und war auch spürbar besorgt, aber niemals hat sie mir den Eindruck vermittelt, dass sie daran glauben könnte, dass ich es am Ende nicht schaffe. Sie hat mir durch ihr Verhalten und Dasein enorme Kraft gegeben.“
Einige Freunde hätte er seit seiner Krankheit verloren, neue Freundschaften seien entstanden. „Sicher gibt es auch Positives an der ganzen Geschichte“, resümiert er. „Ich bin geduldiger geworden. Gelassener. Ich setze andere Prioritäten. Aber weißt du was? Auf diese Lektionen hätte ich gerne verzichtet, wenn ich im Gegenzug dafür nie krank geworden wäre.“
Fotos: privat