„Lasst sie Fehler machen“
Es ist knapp zwei Jahre her: Mein Sohn Max hatte vor wenigen Tagen Fahrrad fahren gelernt. Zwischen „Mama, ich werde das niemals schaffen“ und „Mama, guck mal, wie schnell ich fahren kann!“ lagen etwa 15 Minuten. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass es nicht darauf ankommt, wie schnell man fahren kann, sondern dass das Halten des Gleichgewichts und das sichere Auf- und Absteigen viel wichtiger sind. Er hörte sich alles an, was ich zu sagen hatte, nickte bedächtig mit dem Kopf und rief dann aufgeregt: „Und jetzt guck mal, wie schnell ich wirklich fahren kann!“ Es blieb nur eine kleine Schramme zurück, als er kopfüber auf dem Rasen des Nachbargrundstücks landete.
Ich versuche, eigene Erfahrungen an meine Kinder weiterzugeben. Mein eigener Erfahrungsschatz hat natürlich keinen Anspruch auf Übertragbarkeit oder Allgemeingültigkeit und ich kann mich irren oder falschliegen. Es ist für mich wirklich nicht einfach, den Kindern zuzugestehen, eigene Erfahrungen zu sammeln, wenn ich selbst doch meine, es besser zu wissen. Manchmal verstehe ich aber, dass es einen Unterschied zwischen vorgekautem Wissen und selbst erfahrenem Wissen gibt. Und dass jeder eigene Erfahrungen machen muss und darf, damit sich die eigene Weltsicht entwickeln kann.
Schwierig wird es, wenn es darum geht, auszudifferenzieren, in welchen Fällen ich meinen Erfahrungsschatz über den Wunsch meiner Kinder, eigene Erfahrungen machen zu dürfen, stellen darf und muss: Nicht jeder Fehler muss am eigenen Leib erfahren werden und manchmal geht es schlichtweg darum, die Kinder vor Gefahren zu schützen, die sie entwicklungsbedingt nicht richtig einschätzen können. Eine vielbefahrene Straße ist beispielsweise keine Übungsfläche für eigene Fehler, sondern hier gilt mein Wort.
Es fühlt sich oft wie ein Drahtseilakt an, alle Bedürfnisse gegeneinander abzuwägen.
Das, was ich meinen Kindern erzähle oder zeige, kann sehr wertvoll sein. Aber erst durch das, was sie selbst erleben, gelangen sie doch zu dem, was einmal ihre eigene Wahrheit wird.
Ich hoffe, es gelingt mir, ein guter Begleiter auf ihren Wegen zu sein. Jemand, der ein Vorbild (mit eigenen Fehlern und trotz dieser) sein kann. Und jemand, der auch mal liebend einfach nur zusehen kann, wenn Kinder eigene, notwendige Fehler machen.
In diesem Jahr wird Max übrigens sieben Jahre alt. An seiner Stirn hat er mittlerweile zwei Narben, die jeweils unabhängig voneinander im Krankenhaus behandelt werden mussten. „Zieh deinen Helm an und pass auf dich auf“, rufe ich ihm zu, wenn er mit dem Fahrrad das Dorf erkunden will. In mir drin wohnt ein Teil, der ihn gerne festhalten und rufen möchte: „Bleib lieber hier. Hier ist es sicher und in der Welt da draußen lauern lauter Gefahren.“ Ein anderer Teil in mir sieht die leuchtenden Augen meines Sohnes, wenn er sich allein auf sein Fahrrad schwingt und zum Abschied nochmal winkt. Dieser Teil denkt dann leise: „Geh raus und lebe. Du schaffst das. Ich vertraue dir.“ Ich baue darauf, dass diese Stimme in mir mit der Zeit immer lauter werden darf.
Text und Fotos: Mandy Falke