Kunsttherapie meets Wartezimmer
Kunsttherapie meets Wartezimmer
Sonja und Eileen absolvieren ein Masterstudium in Kunsttherapie. Kunsttherapie soll die Fähigkeit des Menschen fördern, seine Umwelt unmittelbar über die Sinne wahrzunehmen und zu begreifen. Sie setzt an einem tiefen Grundbedürfnis des Menschen an, sich auszudrücken und mit sich selbst und anderen in Kontakt zu treten.
Im Rahmen ihres Studiums führen die beiden Studentinnen ein Praxisprojekt in der Pohlig GmbH durch. Das Traunsteiner Unternehmen, das mehrere Niederlassungen in Deutschland und Österreich betreibt, ist auf Kinder-Orthopädietechnik spezialisiert. Die Zielgruppe der beiden Studentinnen: Patientenkinder, die ihre Wartezeit kreativ nutzen möchten. Seit knapp zwei Wochen betreuen Sonja und Eileen nun schon die „Warte-Werkstatt“ im Anproberaum der Firma Pohlig. Zwei weitere Wochen liegen noch vor ihnen.
Könnt ihr eure Projektidee kurz vorstellen?
Sonja: Wir bieten eine Kreativwerkstatt an, in der die Kinder basteln und malen können, während sie ihre Orthesen oder Prothesen zur Probe tragen oder auf deren Weiterbearbeitung warten. Das Kreativ-Angebot richtet sich an alle, die sich ablenken und Spaß haben wollen, aber auch an diejenigen, die ein bisschen Entspannung, Aufheiterung oder Entlastung suchen. Auch Geschwisterkinder sind herzlich willkommen.
Wie seid ihr auf die Idee gekommen, euer Projekt in der Pohlig GmbH durchzuführen?
Sonja: Ich wurde als Kind selbst bei POHLIG versorgt. Aufgrund meiner AMC habe ich für beide Füße Orthesen benötigt. Vom ersten bis zum dreizehnten Lebensjahr war ich regelmäßig hier. Ich habe noch zahlreiche Erinnerungen an die Bänke im Wartebereich, wo ich zusammen mit meiner Familie und anderen Kindern so manche Stunde verbracht habe. Bis so ein individuelles Hilfsmittel wirklich passt, dauert es einfach seine Zeit. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass diese Situation für Kinder nicht immer leicht ist. Gerade das Warten, Anprobieren und Probetragen sind Momente, in denen man sich der eigenen körperlichen Einschränkung besonders bewusst wird. Das kann mit ambivalenten Gefühlen verbunden sein. Solche Gefühle können in der Kunst ein gutes Ventil und einen Ausdruck finden. Unsere therapeutische Ausbildung befähigt uns, in solchen Momenten empathisch für die Kinder da zu sein.
Hast du auch bereits Erfahrungen mit dem Thema Behinderung gemacht, Eileen?
Eileen: Nein, ich bin eine komplette Laiin auf diesem Gebiet. Aber ich finde es positiv, dass wir mit zwei unterschiedlichen Perspektiven arbeiten.
Drücken die Kinder ihr körperliches Handicap in ihren Kunstwerken aus?
Eileen: Wir hätten das eigentlich mehr erwartet. Gestern hatten wir ein Kind da, das die Rollstuhlthematik ganz klar in seinen Bildern aufgegriffen hat. Meistens thematisieren die Kinder allerdings Dinge, die nichts mit ihrer Behinderung zu tun haben. Uns war wichtig, dass man in der „Warte-Werkstatt“ ganz verschiedene Seiten von sich zeigen kann.
Gibt es etwas, das euch besonders überrascht hat?
Eileen: Womit wir beide nicht gerechnet haben, ist, dass die Eltern so stark in unser Projekt involviert sind. Oft sitzen sie zusammen mit ihren Kindern am Maltisch. Bei den Gesprächen merken wir dann, dass es überwiegend die Eltern sind, die nach Entlastung suchen, und die Kinder dagegen einfach vor sich hin malen möchten.
Sonja: Mich beeindruckt am meisten, wie die Kinder mit ihren eigenen Grenzen umgehen. Manche haben z. B. aufgrund einer Handfehlstellung Schwierigkeiten mit der Feinmotorik, wenn sie versuchen, einen Knopf anzunähen. Hier gibt es zwei Dinge, die mir echt imponieren: zum einen, dass viele Kinder es erst einmal versuchen, anstatt sofort aufzugeben. Und zweitens, dass sie ziemlich klare Vorstellungen davon haben, was geht und was nicht geht. Sie fragen uns auch ohne jede Bitterkeit um Hilfe. Diesen Umgang mit den eigenen Grenzen finde ich sehr selbstbewusst. Wir suchen dann immer einen Weg, ihnen zu helfen sich selbst zu helfen.
Was begeistert euch persönlich an Kunst?
Eileen: Vor allem, dass es ein anderer Zugang ist, um sich selbst und die Welt zu erfahren, und dass man mit dem arbeitet, was man kann, und nicht mit dem, was man nicht kann.
Sonja: Und trotzdem lernt man bei jeder kreativen Arbeit dazu. Was mir besonders an Kunst gefällt: Sie hat etwas sehr Selbstbestimmtes, Freies, Spielerisches. Das kommt im Alltag oft zu kurz.
In welchen Bereichen könnt ihr mit eurem Studienabschluss arbeiten?
Sonja: Kunsttherapeuten trifft man in klinischen und pädagogischen Arbeitsfeldern an. Im klinischen Bereich arbeiten sie mit Patienten, die z. B. unter psychischen Erkrankungen leiden, oder auch mit Krebspatienten. Neben Musik- oder Sporttherapie ist die Kunsttherapie eine Ergänzung zur Psychotherapie, ein alternativer Zugang sozusagen.
Die pädagogischen Arbeitsfelder befinden sich noch im Aufbau. Hier steht, im Gegensatz zum klinischen Bereich, keine Erkrankung im Vordergrund, sondern der Mensch wird in Bezug auf seine Lebensphase unterstützt. Einige Pioniere sind bereits in Schulen aktiv, vorwiegend in Inklusionsschulen. Aber auch Gefängnisse und Seniorenheime bieten interessante Betätigungsfelder.
Euer bisheriges Resümee?
Sonja: Ich habe das Gefühl, dass wir den Kindern etwas geben können. Aber wir bekommen auch ganz viel zurück. So gab es bisher viele Szenen, die mich beeindruckt haben. Ich habe großen Respekt vor dem, was die Kinder hier schaffen und wie sie mit ihrer Behinderung umgehen.
Eileen: Dadurch, dass ich zum ersten Mal bei POHLIG bin, fällt mir auf, wie unglaublich liebevoll die Orthopädietechniker mit den Kindern umgehen. Das ist so schön zu sehen!
Sonja: Manchmal kommen die Techniker sogar zu uns in die „Warte-Werkstatt“, wenn gerade eines ihrer Patientenkinder bei uns sitzt. Dann probieren sie das Hilfsmittel direkt am Maltisch an. Nicht nur mit den Kindern, auch mit uns gehen die Orthopädietechniker sehr respektvoll und herzlich um – da fühlt man sich gut aufgehoben!
Katharina Wollkopf im Interview mit Sonja Weiß und Eileen Nörenberg
Fotoquelle: Pohlig