Hela erklärt die Welt – ich und Albert
Hela erklärt die Welt – ich und Albert
Hela ist vier und hat das Angelman-Syndrom. Während gleichaltrige durch die Spielwiesen hopsen, widmet sie sich lieber scharfsinnigen Beobachtungen und stellt sich unerschrocken diversen Fragen philosophischer Natur. Könnte sie sprechen, würde sie möglicherweise das hier sagen:
Neulich habe ich durch eine Fernsehsendung einen prominenten Gleichgesinnten kennengelernt: Albert Einstein.
Ich weiß, der eine oder die andere mögen jetzt ein bisschen skeptisch sein … Also, weil ich erst vier bin und Albert scheinbar schon bei der Geburt hundert Jahre alt war und dazu noch furchtbar klug. Aber ich schwöre, auch er war mal ein Kind! Und bis er drei war (und manche sagen sogar bis sechs), hat er, so wie ich, keinen Mucks von sich gegeben, weswegen einige dachten, er sei geistig behindert oder so.
Man schickte ihn von Arzt zu Arzt und versuchte, ihn doch zum Sprechen zu bringen … Ich kann euch versichern, ich verstehe genau, wie sich das angefühlt hat! Und ich bin mir sicher, dass all die klugen Sachen, die er dann später doch gesagt hat, ihren Ursprung darin haben, dass er in den Anfangsjahren erst mal gründlich nachgedacht hat. Ich denke auch wirklich gerne und bin im Handeln, wie er, eher eine Theoretikerin als Praktikerin.
Überhaupt gibt es eine ganze Reihe von Sachen, die uns verbinden. Da wären zum Beispiel die unorthodoxe Frisur oder der Sinn für Humor oder die rausgestreckte Zunge. Alle lieben das berühmte Bild von Albert, auf dem er den nervigen Journalisten, die ihn den ganzen Abend belagert haben, die Zunge zeigt. Als ein Kind mit Angelman-Syndrom hat man echt eine Menge Sachen, die einen nerven, und somit wirklich viele Gründe, der Welt die Zunge zu zeigen. Also vergesst den ganzen Quatsch mit dem orofazialen Muskulatur-Blabla: Das nächste Mal, wenn bei einem Kind die Zunge draußen ist, wisst ihr Bescheid, was Sache ist.
Albert war nicht gleich ein Genie, sondern ging erst mal zur Schule. Dort hatte er viele Lehrer, an die sich kein Mensch mehr erinnert. Bis auf einen – seinen Altgriechischlehrer. Er hat sich mit einem Satz berühmt gemacht, den er über Einstein gesagt hat: „Aus dem Jungen wird nie was werden“. Damit hat er sich selbst sozusagen ein Denkmal gesetzt, denn wer würde ihn sonst jetzt noch, so viele Jahre später, zitieren. Das war eine clevere, wenn auch eine fiese Taktik seinerseits. Jetzt weiß ich, wenn jemand so etwas Doofes über mich sagt, hat das in Wirklichkeit wenig mit mir zu tun. Vielmehr versucht der-/diejenige ebenfalls, sich ein Denkmal für die Ewigkeit zu setzen – nur halt auf meine Kosten.
Ich sage euch mal was: Vielleicht werde ich nie den Nobelpreis kriegen und vielleicht nicht an einer renommierten Uni forschen und vielleicht werden nie so viele Zitate und Fotos von mir auf Facebook geteilt wie von Albert, aber ich schwöre, auch in mir steckt viel mehr Potenzial, als so manche(r) vermutet. Und was Relativität angeht, da können wir uns mit Albert auf Augenhöhe begegnen. Seine Relativitätstheorie hat kaum jemand verstanden – auch in diesem Punkt fühle ich mich ihm sehr verbunden, denn auch mich kann oft kaum jemand verstehen. Manche Teile seiner Theorie waren so komplex, dass sie erst nach hundert Jahren nachgewiesen werden konnten. Ich hoffe, ich muss nicht jedes Mal so lange warten, bis man mich verstanden hat, denn das wäre nun wirklich sehr frustrierend. Ihr seht jedenfalls schon, worauf ich hinauswill: Das Problem lag wieder mal nicht bei Albert, sondern es lag an der Welt um ihn herum. Alberts Sprache war zu komplex und zu kompliziert. Meine Zwei-Laut-und-drei-Gesten-Sprache ist den meisten wiederum zu simpel. Nein, bei den meisten Menschen muss man genau die Mitte treffen, damit sie überhaupt bereit sind zuzuhören: Es darf nicht zu kompliziert, aber auch nicht zu einfach sein. Entweder trifft man die goldene Mitte oder man ist ein Außenseiter. Und das Leben scheint schwieriger zu sein, wenn man aus Reihe tanzt.
Auch das Zusammenleben mit Menschen, die aus der Reihe tanzen, scheint nicht ganz einfach zu sein.
Auch wenn Albert so unheimlich klug war und auf den meisten Fotos lächelt, seine Familie schien von der Gravitation und den Quanten ziemlich erschlagen zu sein. Seine erste Frau (denn er hatte zwei) und einer seiner Söhne verbrachten eine geraume Zeit in einer Nervenanstalt. Von seiner außerehelich erstgeborenen Tochter fehlt jede Spur. Das unterscheidet mich von Albert – so etwas würde ich nämlich meiner Familie nie antun. Um auf Nummer sicher zu gehen, dass uns das nicht passiert, verzichte ich freiwillig auf den Weg in die Wissenschaft. Und das, obwohl ich Albert in vielen Punkten nicht nachstehe!
Zum Beispiel heißt es, die Relativitätstheorie habe unser Verständnis von Zeit und Raum revolutioniert. Also das kann ich auch. Ehrlich gesagt, kann das locker jedes Kind. Meine Mama sagt, seit ich auf der Welt bin, ticken die Uhren anders – und die Wohnung ist auch nicht mehr so groß, wie sie mal war. Mit einem Kind sind Zeit und Raum immer relativ, das Angelman-Syndrom relativiert noch mal alles andere. Auch zur Gravitation habe ich ein besonders enges Verhältnis, denn sie scheint sich auf meinen Körper viel intensiver auszuwirken als auf andere Menschen. Nein, Alberts Theorien habe ich gut verinnerlicht, denn im Gegensatz zu vielen anderen habe ich keine Angst vor schwierigen Themen. Eloquent durchdiskutieren kann ich sie zwar nicht, ich stelle mich ihnen aber jedes Mal lächelnd und unerschrocken. Tief in meinem Inneren bin ich wahrscheinlich auch ein Genie – so wie jeder andere Mensch auch. Das hat Albert ebenfalls so gesehen:
„Jeder ist ein Genie!
Aber wenn du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, dass er dumm ist“, hat er nämlich gesagt.
Ich danke dir vielmals für deine klugen Worte, lieber Albert!
Deine Hela
Gedacht von Hela, aufgeschrieben von Mama – Gosia Hannemann
Fotos: Privat Fam. Hannemann