Einzigartig und mutig. Sich neu (er-)finden mit einem Kind mit besonderen Bedürfnissen
Einzigartig und mutig. Sich neu (er-)finden mit einem Kind mit besonderen Bedürfnissen
Die pflegenden Eltern Sandra Brunner (40) und Christian Boris Brunner (43) gründeten das inklusive Unternehmen einzigNaht und betreten damit Neuland.
Mit der Geburt ihrer kleinen Tochter Laura vor vier Jahren wurde Familie Brunner komplett aus ihrer bisherigen Bahn geworfen. Beide waren zuvor beruflich erfolgreich, Sandra als Energiefachwirtin und Christian als promovierter Marketing-Manager. Laura war sehr zart und leicht, obwohl sie nach dem errechneten Geburtstermin geboren wurde. Sie benötigte rund um die Uhr Pflege und schrie sehr oft, bis zu zwölf Stunden am Tag. Ein normales Familienleben war nicht mehr möglich. Zunächst versorgte Sandra Laura fast den ganzen Tag allein. Wenn ihr Mann nach seinem Vollzeitjob nach Hause kam, ging sie direkt ins Bett und er löste er sie ab. „Das war ein absoluter Albtraum“, beschreibt Christian Brunner die Situation. „Als wir dann merkten, dass dieser Zustand nicht vorübergehend ist, haben wir uns privat und beruflich komplett neu erfunden.“ Step-by-step begannen sie damit, sich ein neues Leben aufzubauen, um alle Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen. Sie zogen wegen einer neuen Stelle von Christian von Bad Ems nach Hamburg. Ende 2017 brachten sie dann allen Mut zusammen und entschlossen sich für einen Gentest, der ergab, dass Laura das Williams-Beuren-Syndrom (WBS) hat, eine der seltensten Erkrankungen mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 1 : 10 000. Das war zugleich ein Schock und eine Erleichterung für die Eltern.
Beide wollten für ihre Familie da sein, zu der auch noch die große Tochter Yasmina (11) gehört, aber nicht ausschließlich zu Hause pflegen. 2018 nahm sich Christian eine berufliche Auszeit, während Sandra wieder anfing, in Teilzeit zu arbeiten. Da sie keine Unterstützung bei der Betreuung hatten, nutzen sie ihre Ersparnisse, um sich eine Nanny zu leisten. Das war aber keine langfristige Lösung, doch sie fanden so die Zeit, an ihrer Geschäftsidee zu feilen. Die entstand aus Zufall, denn ihre Tochter Laura war auch als Kleinkind noch immer sehr dünn und zierlich. Obwohl sie alle Onlineshops durchforstet hatten, war es eine absolute Herausforderung, passende Kleidung für sie zu finden. Irgendwann hatte ihre Mutter es satt und ergriff aus der Not heraus selbst die Initiative. Sie kaufte sich eine gute Nähmaschine, begann mit Tutorials bei YouTube, sich das Nähen anzueignen, und tauschte sich online über geeignete Schnittmuster aus. Sandra, die nach der Schule eine kaufmännische Ausbildung in der Textilbranche gemacht hatte, experimentierte viel mit unterschiedlichen Materialien. Schließlich entdeckte sie einen weichen und anschmiegsamen Stoff: Wolle-Seide. Er gleicht die Körpertemperatur aus und war deshalb perfekt für Laura, die schnell friert. Man muss ihn auch nicht ständig waschen, lüften reicht. Bald hatte Laura eine komplett neue Garderobe, die ihr wirklich passte. Die schönen Sachen stachen auch anderen Eltern ins Auge, die sie von Lauras Physiotherapie kannten. So suchte eine Mutter verzweifelt nach passender Kleidung, da ihr Kind gerade eine Magensonde bekommen hatte. Auch auf Facebook gab es Anfragen. Sandra entwickelte verschiedene Prototypen für Kinder, ob mit Sonden, Kathetern, Glasknochen oder anderen „Specials“.
Als Sandra merkte, dass aus dem Nähen mehr als nur Freundschaftsdienste wurden, gründete das Ehepaar schließlich das Start-up einzigNaht, das Bekleidung für Kinder mit Behinderung anbietet. Alles wird in Hamburg maßgeschneidert und auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes zugeschnitten. „Die Kleidung muss dem Kind passen – und nicht das Kind der Kleidung!“, erklärt Sandra Brunner. „Unsere Kleidung soll die Pflege und Versorgung optimal unterstützen und mit den trendigen Designs Freude machen.“ Für ihr Vorhaben erhielten sie im Februar 2019 den Gründergeist-Award der Wirtschaftsjunioren in Hamburg. Ihr Slogan „Inklusion nahtlos gestalten“ beziehen sie auf ihr gesamtes Unternehmen, denn zukünftig wollen sie dort auch Menschen mit Behinderung einstellen. Außerdem haben Sie inzwischen den gemeinnützigen Verein „einzigArtige Inklusion e.V.“ gegründet. Mit Näh-Patenschaften eröffnen sie Kindern diese maßgefertigten Einzelstücke, deren Eltern, sich diese sonst nicht leisten könnten.
Heute arbeitet Sandra in Vollzeit für ihr Unternehmen, Christian ist als Markenberater tätig und übernimmt bei einzigNaht Marketing und PR. Ihre kleine Tochter geht inzwischen in eine inklusive Kita, in der sie gut aufgehoben ist. Durch die Selbstständigkeit schaffen sie es, ihren Familienalltag mit der Pflege und ihrer Arbeit gut zu verbinden, auch wenn Corona sie gerade sehr herausfordert. Allen, die die beiden anfangs noch belächelt haben, haben sie bewiesen, wie viel möglich ist, wenn man voll und ganz hinter einer Idee steht und an sie glaubt – auch als pflegende Eltern.
Ein Beitrag von Verena Niethammer