Die schönste Zeit des Jahres ist die Urlaubszeit?
Die schönste Zeit des Jahres ist die Urlaubszeit?
Ein Beitrag von Ursula Hofmann
So denken sicherlich die meisten Menschen in unserem Land. Einmal ausschlafen, entspannt und ausgiebig frühstücken, den Tag ungeplant angehen und bei allem mal Fünf gerade sein lassen.
Ein kleiner, meist wenig beachteter Teil der Bevölkerung sehnt die Urlaubszeit aber alles andere als herbei und kann oft wenig entspannen. Ich habe die Familien vor Augen, die ein Kind mit schwerer Behinderung oder einer chronischen Erkrankung tagtäglich in der Kernfamilie, oft auch mit Geschwisterkindern, manchmal auch alleinziehend versorgen. Ferien bedeuten meist: Die Betreuung, eben der Alltag ist nun 24 Stunden auf das besondere Kind ausgerichtet. Ganz schnell entwickeln Familien ihre eigene Checkliste für ein Urlaubsziel. Da könnte zu lesen sein: keine Hitze, kurze Anreise, kein Flug, großes ebenerdiges Bad, Aufzug, Pool, Arzt und Kinderklinik in der Nähe, nur Ferienwohnung oder Haus, da das Kind nachtaktiv ist getrennte Schlafzimmer, ein Pflegebett mit hohen Gittern – mit oder ohne Animationsprogramm für die Geschwister, für die Eltern, Betreuung für das Kind mit Einschränkungen? Was gibt es in der Umgebung? Wie kriegen wir alle Hilfsmittel ins Auto? Monitor und Sauerstoffgerät, Lagerungskissen, Windeln, Wäscheberge, Rehabuggy oder Rolli – oder alles?
Kommt Ihnen das bekannt vor, dass dann die Geschwisterkinder fragen: „Wo ist Platz für meine Sachen, könnten wir nicht mal am Meer, in den Bergen oder in einem fremden Land Urlaub machen?“ Und manche Eltern werden sich fragend ansehen: Wie sieht eigentlich unser Traumurlaub aus? Brauchen wir eine Alternative, wollen wir etwas Neues wagen, trauen wir uns an das Thema Kurzzeitpflege? Dieses nicht ganz prickelnde Wort, das wir eher mit älteren pflegebedürftigen Menschen verbinden, gibt es auch für Kinder. Vielleicht denken Sie jetzt: „Ich kann mein Kind doch nicht weggeben und dann fröhlich am Strand liegen oder das Bergpanorama genießen.“ So dachten auch ich und mein Mann. Die Emotionen fahren Achterbahn, vor allem wenn nicht alle in einer Familie – dazu gehören auch Geschwisterkinder – derselben Meinung sind und die schönste Zeit des Jahres anders bewerten. Wie kann ich das aushalten, dass jemand Fremdes mein Kind versorgt, ohne dass ich dabei bin? Geht das überhaupt, dass unsere Tochter, die nicht sprechen kann und so viele (auch medizinische) Besonderheiten hat, liebevolle Zuwendung bekommt? Die ersten Trennungen durch Kindergarten und Schule haben wir als Familie doch auch überlebt. Mein schlechtes Gewissen meinen drei anderen Kindern gegenüber und meine Reiselust waren dann letzten Endes doch unser Antriebsmotor, das Thema Kurzzeit in Angriff zu nehmen. Selbst als vierfache Mutter fiel es mir extrem schwer loszulassen, obwohl die Geschwisterkinder ganz früh schon an entfernten Ferienlagern teilgenommen hatten. An Abschied und Rückkehr von glücklichen und unversehrten Kindern war ich doch gewöhnt. Das ist nun mehr als acht Jahre her. Wie geht es uns, wie geht es mir heute damit? Bis heute ist Abschied und Wiederkehr mit Kribbeln im Bauch verbunden, denn plötzlich auftretende medizinische Probleme können die beste Planung einer Kurzzeit bis zum Schluss unmöglich machen oder vorzeitig beenden. Ebenso muss geregelt sein, wer unsere Tochter im Notfall abholen könnte. Wenn beide Eltern gemeinsam verreist sind, ist das gar nicht so einfach zu organisieren.
Wir begannen mit ganz kleinen Schritten. Erst zwei Testtage und -nächte. Minütlich wartete ich auf einen Anruf, um die Tochter wieder abzuholen wegen unerwarteter Schwierigkeiten. Es kam kein Anruf. Obwohl ich eigentlich jetzt endlich mal zwei Nächte hätte durchschlafen können, war ich hellwach. Es folgte eine weitere Woche, in der wir nicht verreist waren, immer rufbereit. Ein großes Abenteuer war die Reise mit den Geschwistern nach Nordirland. Die Planungen für die Reise dauerten neun Monate. Es hat sich gelohnt. Eine wundervolle Reise, ohne Windelwechsel, Rehabuggy, Wäscheberge. Nach reichlich 14 Tagen holten wir ein vergnügtes strahlendes Kind aus der Kurzzeit ab. Das war für mich die emotionale Wende. Ich begriff, wie sehr uns eigentlich schon viele Jahre solch eine unbeschwerte, unverplante Auszeit gefehlt hatte. Wie viel die Geschwisterkinder unbewusst verzichtet haben auf eine „pflegefreie Zeit“, obwohl sie die kleine Schwester über alles lieben. Mir wurde bewusst, dass ich in all den Jahren der Pflege verlernt hatte, spontan auch mal meinen Bedürfnissen nachzugehen. Unsere Tochter zeigte uns, dass sie auch mit anderen Kindern Spaß haben kann, eben ohne uns. Danach folgten weitere Schritte. Wir Eltern erlaubten uns einen Urlaub zu zweit, die Jüngste in ihrer vertrauten Kurzzeit. Einfach himmlisch. Nach unserer Auszeit freuten wir uns unbändig wieder auf unsere Tochter, na ja, nicht auf schlaflose Nächte, aber auf ihr strahlendes Gesicht und ihre Umarmungen. Meine Rückenschmerzen waren auch verschwunden. Kein Wunder, wenn damals immer irgendwie 30 kg zu händeln waren. Natürlich kamen sie wieder. Es verdeutlichte mir, dass eine Pflegeauszeit nicht nur meiner Seele, sondern auch meinem Körper guttut. Mein „Reisegen“ erwachte nun aus seinem Dauerschlaf und in den folgenden Jahren kamen auch entferntere Ziele dazu. Was ich verdeutlichen möchte, ist die Tatsache, dass jede und jeder, auch die Geschwisterkinder, das Recht und die Chance haben sollten, Urlaub, Auszeiten oder eine Kur nach eigenen Wünschen zu erleben. Ohne schlechtes Gewissen. Viele Familien haben durch ihren durchgetakteten Pflegealltag verlernt, wie es sich anfühlt, Freunde zu treffen, Natur, Musik, Theater, Tanz zu genießen. Solche Events sind gefühlt tausend Jahre her.
Fortsetzung in der nächsten Ausgabe von Momo: U.a. Wie erfolgt die Beantragung, was hat der Antrag*steller zu beachten?