Einfach nur „Isabella, die Starke“
Einfach nur „Isabella, die Starke“
Die gute Nachricht zuerst. Sonst wäre die Geschichte, die ich hier erzählen werde, kaum auszuhalten. Isabella lebt! Sie wurde im April 2017 geboren: zehn Wochen zu früh, nur 35 cm klein und 1410 g leicht. Aber sie lebt, ist eine wahre Kämpfernatur und wickelt alle mit ihrem unglaublichen Charme geradezu um den Finger!
Isabella hat einen Bruder, Dexter. Er ist drei Jahre älter als seine kleine Schwester. Meine heutige Geschichte handelt vom Wunsch der Eltern, für Dexter noch ein Geschwisterchen zu bekommen. Und der Wunsch von Katrin und Raoul ging in Erfüllung. Katrin wurde schwanger. Sie erzählt: „Beim zweiten Besuch des Frauenarztes stellte sich heraus, dass ich ‚doppelt schwanger‘ bin! Wir erwarteten eineiige Zwillinge!“
Zuerst war das für die kleine Familie ein Schock – ist doch Katrin selbst eine große Schwester von Zwillingsbrüdern und weiß, was das bedeutet.
„Aber natürlich freuten wir uns riesig auf die beiden Mädchen. Dennoch hatte ich in der ersten Phase der Schwangerschaft ein unerklärbar ungutes Gefühl!“
Aber die Aussage des Arztes, dass alles okay sei, gab ihr zumindest eine gewisse „medizinische Sicherheit“. Vielleicht waren es ja auch nur Bedenken, wie es sein würde, in Zukunft den lebendigen Dexter und zwei Säuglinge versorgen zu müssen …?
Aber Katrin ging es immer schlechter und plötzlich, in der 26. Schwangerschaftswoche, konnte dieses Gefühl nicht mehr mit der Angst vor einer möglichen Überlastung erklärt werden. Nach einer Routineuntersuchung schickte der Gynäkologie sie sofort in ein nahegelegenes Krankenhaus. Von hier wurde sie schnellstens zu einem Spezialisten in die nächste Großstadt verlegt.
Die Diagnose – so unaussprechlich wie unbegreiflich: Fetofetales Transfusionssyndrom. Dieses Syndrom, bei dem sich zumeist eineiige Zwillinge eine Plazenta teilen, ist sehr selten, aber immer hochdramatisch, denn normalerweise hat jedes Kind eine eigene Plazenta. Die Auswirkungen sind schwerwiegende Durchblutungs- und Ernährungsstörungen der ungeborenen Kinder. Einfach ausgedrückt: Die kindlichen Blutkreisläufe sind über Gefäßverbindungen auf der Plazenta miteinander verbunden, wodurch es zu einem Ungleichgewicht des Blutaustausches zwischen den Ungeborenen kommt.
Einzige Möglichkeit: eine sogenannte Fetoskopie. Dabei handelt es sich um eine Laserbehandlung im Mutterleib – die einzige Möglichkeit, dieses Syndrom zu beheben. Papa Raoul erzählt: „Die Ärzte teilten uns mit, dass die Wahrscheinlichkeit, das Leben beider Mädchen zu retten, sehr gering, aber vorhanden sei.
Aber wir hatten auch keinerlei Möglichkeiten, in Ruhe nachzudenken, denn Katrin ging es von Minute zu Minute schlechter!“
Und man hatte tatsächlich mittlerweile ein weiteres Krankheitsbild festgestellt: das Mirror-Syndrom. Dabei leiden nicht nur die ungeborenen Kinder unter einer generalisierten Flüssigkeitsansammlung im Körper, sondern auch die Mutter. Katrin hatte nicht nur unglaublich viel Fruchtwasser, sondern massive Wasseransammlungen im ganzen Körper. Sie konnte kaum noch atmen.
Am nächsten Tag konnte Katrin am Bildschirm zuschauen, wie ein Arzt mittels sogenannter Laser-Ablation die Gefäßverbindungen ihrer Töchter auf der Plazentaoberfläche mit Laserstrahlen „beschoss“. Dadurch sollten nach erfolgreichem Eingriff zwei voneinander getrennte fetale Blutkreisläufe entstehen.
Darauf hofften Katrin und Raoul ganz stark.
Zwei Tage wähnten sie sich in Sicherheit – bis zur Untersuchung am dritten Tag. „So“, sagte der Arzt, „hier höre ich schon mal keinen Herzton mehr!“ Was dieser so lapidar hingeworfene Satz bedeutete, wagten die Eltern nicht auszusprechen. Dass das andere Kind wahrscheinlich Folgeschäden haben wird, war so gut wie sicher. In welcher Form konnte man den Eltern jedoch nicht sagen.
Welch ein Alptraum für jede werdende Mutter!
In der Hoffnung, dass die Schwangerschaft so lange wie möglich bestehen bleibt, schickte man Katrin wieder nach Hause. Dort wartete Dexter, der seine Mama drei Wochen schmerzlich vermisst hatte. Es ging ihm schlecht, spürte er doch eine Unruhe und konnte nicht begreifen, warum er so lange von seiner Mutter getrennt war.
Doch lange konnte Katrin nicht bei ihm bleiben. In der 29. Schwangerschaftswoche platzte die Fruchtblase und beide Mädchen mussten per Kaiserschnitt geholt werden. Katrin kann verständlicherweise auch heute – mehr als zwei Jahre danach – kaum darüber sprechen: „Melissa kam still zur Welt, Isabella mit einem zuckersüßen, wenn auch leisen, Schrei!“
Katrin ist noch immer sehr dankbar für die liebevolle Betreuung in der Klinik. Isabella hatte sie kurz nach der Geburt kurz gesehen, bevor sie auf die Intensivstation kam. Melissa hatte es nicht geschafft. Als ob das nicht schon genug Verzweiflung und Trauer waren, wurde nun noch die dritte schreckliche Diagnose mit massiven Auswirkungen gestellt: Isabella litt an ihrem rechten Bein an einer feuchten Gangrän. Das Bein war grünlich-braun verfärbt – vermutlich eine Folge der drei Wochen zuvor vorgenommenen Fetoskopie –, einfach ausgedrückt: abgestorbenes Gewebe durch eine mangelnde Blutversorgung. Noch am Tag ihrer Geburt wurde Isabella das rechte Bein amputiert, weil eine schwere Sepsis drohte.
Ich frage: „Katrin, wie hast du diese unvorstellbaren Wochen ausgehalten? Was hat dir Kraft gegeben?“
Katrins Antwort kommt mit einem Lächeln, das mich froh macht, aber auch zutiefst rührt: „Ich hatte nun ja nicht nur Dexter, sondern auch Isabella. Beide Kinder brauchten mich und dafür musste ich stark sein! Melissa haben wir unter einem Baum im Wald beigesetzt. Sie hat sich während der Schwangerschaft in einem Traum von mir verabschiedet. Wir wissen, dass ihre Seele weitergereist ist. Aber sie lebt auch in Isabella weiter. Nur so können wir uns deren Kraft und Lebensfreude erklären!“
Und in der Tat: Isabella entwickelt sich rasant. „Welch eine Kämpferin!“,
denke ich, als ich sie an der Hand ihres Papas laufen sehe. „Laufen?“, mag sich manch einer fragen. Ja, Isabella hat ihre erste Prothese mit neun Monaten bekommen. Seit Oktober 2018 hat sie eine Prothese mit beweglichem Kniegelenk – da war sie eineinhalb Jahre alt.
Und was Dexter mit großen Augen und ein bisschen ungläubig auf unserer Freizeit der AMPU KIDS im Mai beobachtet, macht mich glücklich und ohne jeden Zweifel hoffnungsvoll: Isabella geht ihre ersten Schritte allein!
Alles Gute, ihr VIER!
Ein Beitrag von Andrea Vogt-Bolm